Merkmale | 1822 angelegt, gelegen zwischen Lütticher Straße, Körnerstraße und Emmi-Welter-Straße. Unregelmäßige, ungefähr viereckige Grundfläche, entstanden durch zahlreiche Erweiterungen des ursprünglich sehr kleinen und dreieckigen Friedhofs (1846, 1865, 1878, vor 1887, 1905, 1926/1927 und 1981). Die Erweiterungsfläche von 1927 im Südosten etwas schmaler, die letzte von 1981, die nicht Teil des Denkmals ist, einen Annex nach Nordosten bildend. Der Friedhof nach partiellen Kriegsschäden bis 1951 wiederhergestellt.
Umgeben von einer Ziegelmauer, die im Zuge der Erweiterungen immer wieder verlängert und versetzt worden ist. An der Lütticher Straße und an der Körnerstraße Außenseite verputzt, dort der untere Teil der Mauer mit bossierten Natursteinkleinquadern, im oberen Teil Strebepfeiler. An der Lütticher Straße links Eingang, bestehend aus einem segmentbogigen Tor rechts (darüber Inschrift) und einem Durchlass links, vor beiden Freitreppe. Rechts neben dem Tor Gedenktafel von 1952.
Unmittelbar hinter dem Eingang rechts an die Umfassungsmauer angebaut die Trauerhalle von 1899 (Architekt: Josef Hündgen). Rechteckiger, teils verputzter Ziegelbau mit verrundeten Ecken unter Flachdach. Nordöstliche Schmalseite ehemals offen, dort 1928 ein großer Bogen, in diesen nach 1945 ein segmentbogiger Eingang mit zweiflügeliger Holztür eingebaut. An der Längsseite zum Friedhof fünf hohe Rundbogenfenster mit Ziegelrahmung. Als oberer Abschluss Gesims aus drei Platten. Rückwärtig nach Südwesten niedriger Anbau der Nachkriegszeit unter Flachdach. Im Inneren Wandgliederung mit rechteckigen Feldern und Blendarkaden, darüber Oculi. Abgehängte Flachdecke wohl der Nachkriegszeit. Ältere Ausstattung: Terrazzoboden, zwei Menorot von 1912, Wandleuchter, Glasfenster, vielleicht auch das Gestühl. Für 1928 eine Ausmalung von Max Lazarus bezeugt, unter der derzeitigen Fassung mindestens in Teilen noch erhalten. Im Anbau der Nachkriegszeit Tahara-Raum mit Fußbodenfliesen, Wandfliesen, Heizung und Tisch für die Leichenwaschung.
Links des Eingangs an der Brandmauer zum Haus Lütticher Straße 37 das Wärterhaus. Ein- bis zweigeschossiger, einfacher Putzbau unter zwei Flachdächern, bis 1951 als Ersatz für einen vermutlich durch Kriegseinwirkung zerstörten Vorgängerbau von 1880 (Architekt: Eduard Linse) errichtet. Reste dieses Gebäudes erhalten: Keller mit Treppenansatz, Erdgeschosswand mit zwei Fenstern und mittig ehemals rundbogiger Eingang, dieser zur Blendarkade mit Waschbecken umgebaut.
Der gerade Hauptweg außermittig, dadurch links nur ein schmaler Streifen für Gräber. Im hinteren Teil nach rechts rechtwinklig schmale Querwege abzweigend, weiter vorn die Grabreihen schräg zum Hauptweg. Die ältesten Gräber südwestlich der Trauerhalle. In der hinteren Erweiterung von 1927 eigenes Wegesystem. An der Mauer zur Körnerstraße modern ein Geviert ausgespart (Garage und Depot für Grünabfälle).
1400 Grabsteine aus der Zeit von 1822 bis vor 1945. Die Gräber der Zeit um 1940 (die letzten Beisetzungen von 1942) meist nur mit einfachen Blechtafeln. Überwiegend steinerne Grabeinfassungen.
Parkartiger Baumbestand, doch nur die Lindenreihe am Mittelweg systematisch gepflanzt. |
Begründung | Der jüdische Friedhof Lütticher Straße 39 erfüllt im definierten inhaltlichen und räumlichen Umfang mit den oben beschriebenen wesentlichen Merkmalen die Voraussetzungen eines Baudenkmals im Sinne von § 2 Abs. 1-2 des Nordrhein-westfälischen Denkmalschutzgesetzes (DSchG NRW) in der Fassung vom 13.04.2022. Insbesondere ist der Jüdische Friedhof Lütticher Straße 39 bedeutend für die Geschichte des Menschen, für die Kunst- und Kul-turgeschichte und für Städte und Siedlungen. Ferner besteht an seiner Erhaltung und Nutzung wegen seiner künst-lerischen, volkskundlichen und wissenschaftlichen Bedeutung ein Interesse der Allgemeinheit.
Bedeutung für die Geschichte des Menschen:
Da die erste große Aachener Synagoge 1938 zerstört wurde, ist der Jüdische Friedhof an der Lütticher Straße das wichtigste bauliche Zeugnis für die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Aachens zwischen 1822 und 1942 und die bedeutende Rolle, welche die jüdischen Einwohner bis zur Shoah der NS-Zeit in der Stadt gespielt haben.
In Aachen hatte es lange Zeit keine jüdische Gemeinde gegeben, und offenbar wurden Juden von der Reichsstadt nur in geringer Zahl geduldet - obwohl die "Judengasse" bereits im Mittelalter so hieß und keine Verfolgungen bekannt sind. Erst mit der französischen Besetzung wurde Juden ein halbwegs freier Zuzug möglich. 1815 ist in Aachen erstmals ein jüdischer Gottesdienst bezeugt. Beisetzungen waren anfangs nur in Vaals möglich, sodass die neu entstandene Jüdische Gemeinde 1820 bei der Regierung einen Antrag auf Überlassung eines für einen Friedhof geeigneten Grundstücks stellte. 1822 wurde der Platz an der Lütticher Straße ausgewählt und eine erste Mauer gebaut. Das zunächst dreieckige Grundstück war spätestens um die Mitte des 19. Jhs. vollständig belegt und wurde in der Folgezeit mehrfach erweitert. 1839 entstand im Hirschgraben ein erster und 1862 am Promenadenplatz (heute: Synagogenplatz) ein zweiter, wesentlich größerer Synagogenbau.
Damals und bis in die 1930er Jahre waren etwa 1,1% der Bevölkerung Aachens jüdischen Glaubens. Juden spielten im kulturellen und wirtschaftlichen Leben Aachens eine große und gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil weit überproportionale Rolle. Vor allem bei den Tuchfabriken und Tuchgroßhandlungen war der Anteil jüdischer Eigentümer sehr groß, und entsprechend hoch war das Steueraufkommen einiger jüdischer Bürger. Dadurch war auch die Jüdische Gemeinde wohlhabend, was sich nicht zuletzt in dem anspruchsvollen Synagogenbau spiegelte. Von individuellem Reichtum wiederum zeugen - außer vielen noch stehenden Wohnhäusern und einzelnen erhalte-nen Fabrikanlagen in der Stadt - vor allem die vielen aufwändigen Grabstätten des Jüdischen Friedhofs.
Wie überall in Deutschland und weiten Teilen Europas bedeutete die NS-Zeit das abrupte Ende dieser Epoche. Die Aachener Juden mussten entweder fliehen oder wurden deportiert und ermordet. Der Friedhof blieb glücklicherweise anscheinend von größeren Schändungen verschont (obwohl schon seit dem 19. Jh. immer wieder Schändungen bezeugt sind), nur durch Kriegseinwirkung wurden einzelne Gräber und das Wärterhaus zerstört oder beschädigt. Bestattungen wurden noch bis 1942 vorgenommen, überwiegend in einem schmalen Streifen am Nordostrand, der bis dahin weitgehend unbelegt gewesen war. Die letzten Beisetzungen sind nur durch einfache Blechtafeln gekennzeichnet, die wenigen Grabsteine wurden wohl erst nach dem Krieg aufgestellt. Auf einige Opfer der Shoah, die deportiert und im Osten ermordet worden sind, verweisen nur Gedenkinschriften. Viele reser-vierte Grabstellen wurden nicht mehr belegt, Doppelgräber nicht mehr zu Ende beschriftet, weil die Inhaber geflohen oder in der Ferne ermordet worden waren. Ab 1940 wurden an vielen Grabstätten Metallteile wie Gitter und Buchstaben entfernt, dies betraf jedoch andere Friedhöfe gleichermaßen. 1942 wurden die letzten Aachener Juden deportiert. Einem einzigen jüdischen Mann, Alfred Löwendahl aus Köln, gelang es, in Aachen versteckt das Kriegsende zu erleben; ihm ist dann die Initiative zur Neugründung der Gemeinde unmittelbar nach dem Krieg zu verdanken.
Der Jüdische Friedhof wurde bis 1948 instandgesetzt, wahrscheinlich auf Anordnung entweder der Landes- oder Bezirksregierung oder direkt der britischen Besatzungsregierung. Auch die Wiederherstellung der Trauerhalle mit dem neuen Anbau eines Tahara-Raums und der Neubau des Wärterhauses (bis 1951) fallen in die unmittelbare Nachkriegszeit. In ihrer baulichen Anspruchslosigkeit sind sie Zeugnisse für die materielle Not dieser Jahre. Die Wiederherstellung des Friedhofs fand ihren Abschluss mit der Anbringung einer Gedenktafel neben dem Eingang 1952, die ganz zeittypisch in allgemeiner Form an das Leiden der Opfer der Shoah erinnert, ohne aber den Natio-nalsozialismus oder gar die Schuld der Mitbürger beim Namen zu nennen.
Aus kleinsten Anfängen und, von wenigen Rückkehrern abgesehen, fast ohne personelle Kontinuität bildete sich die Jüdische Gemeinde nach 1944 neu. Der Friedhof kam 1949 wieder in ihren Besitz. Ein erster Synagogenbau in der Oppenhoffallee entstand 1957, und 1993-1995 wurde am Standort der 1938 zerstörten Synagoge eine neue Synagoge erbaut. Der Friedhof an der Lütticher Straße wurde wieder belegt und wurde auch 1981 noch ein letztes Mal erweitert, wobei diese letzte Erweiterung und auch die jüngeren Grabstätten aus heutiger Sicht noch keinen Denkmalwert haben. Der Friedhof ist inzwischen fast komplett belegt und kann auch nicht mehr erweitert werden, sodass seit 2007 überwiegend ein neuer jüdischer Friedhof auf der Hüls genutzt wird.
Auf diese Weise spiegeln sich im Jüdischen Friedhof an der Lütticher Straße zwei Jahrhunderte Weltgeschichte, deutsche Geschichte und Aachener Stadtgeschichte, unter denen sich die dunkelsten zwölf Jahre der deutschen Geschichte nachdrücklich aufdrängen.
Bedeutung für die Kunst- und Kulturgeschichte:
Der Jüdische Friedhof an der Lütticher Straße ist in Aachen das wichtigste bauliche Zeugnis jüdischer Kultur zwischen 1822 und 1942 und ihres jähen Endes. In den 1400 durch Steine gekennzeichneten, vor 1945 entstandenen Grabstätten des Friedhofs stellen sich jüdische Glaubensvorstellungen, das Selbstverständnis der Einzelperso-nen, der Wohlstand vieler Familien und die immer stärkere gesellschaftliche Emanzipation und Integration genauso wie zahlreiche Einzelschicksale dar.
Der älteste Grabstein ist der von Jacob Hartogs und stammt gleich aus dem ersten Belegungsjahr 1822. Bis 1942 ist jede Zeitphase durch zahlreiche Beispiele belegt, wobei die letzten Gräber aus der Zeit der beginnenden Shoah nur durch Blechschilder bezeichnet werden konnten. Auf dem Friedhof liegen zahlreiche für Aachen bedeuten-de Persönlichkeiten, darunter einige der wichtigsten Fabrikanten und die Rabbiner und Vorsteher der Gemeinde, aber auch einzelne Auswärtige wie der berühmte Klezmermusiker Michael Joseph Gusikow (1806-1837).
Im Vergleich zu den ältesten bekannten jüdischen Grabsteinen aus dem 11. und 12. Jh. sind die Grabsteine des Aachener Friedhofs von Anfang an bereits wesentlich stärker an den Grabsteinen des christlichen Umfelds orien-tiert. Die allgemeinen Entwicklungslinien jüdischer Grabgestaltung seit 1822 lassen sich, mit einigen lokalen Be-sonderheiten, auf dem Friedhof anschaulich nachvollziehen. Bis in die 1. Hälfte des 19. Jh. waren die Inschriften ausschließlich hebräisch, dann wurde es immer üblicher, simultan hebräische und deutsche Inschriften zu ver-wenden. In Aachen ist das erste Beispiel hierfür der Grabstein des 1843 gestorbenen Abraham Hertz, auf dem der hebräische Text wörtlich ins Deutsche übersetzt ist. Daraus lässt sich schließen, dass Hebräischkenntnisse nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden konnten. Die deutschen Texte wurden zunächst nur auf der Rückseite der Grabsteine angebracht, und sie wurden mit der Zeit immer länger. Nochmals später entstanden dann auch rein deutsche Inschriften, und seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg überwiegen diese schließlich. Das Doppelgrab Leffmann markiert den Übergang, denn an den 1899 gestorbenen Mann erinnert eine zweisprachige, an die 1904 gestorbene Frau eine rein deutsche Inschrift. Die meisten der Texte auf den Grabsteinen sind Eulogien auf die gestorbene Person, und fast immer wird auch die Jenseitshoffnung angesprochen. Viele Inschriften enden mit einer Segensformel.
Die Grabsteine zeigen eine große gestalterische Bandbreite sowohl bei der Grundform als auch beim Schmuck. Am häufigsten sind Stelen (vor allem bei den ältesten Gräbern), aber auch Obelisken und Säulen, Ädikulagräber, Wandgräber und einzelne Skulpturengräber sowie Formen aus der Natur wie Grotten oder Findlinge kommen vor. Häufig sind die beiden Grabsteine von Eheleuten gleich gestaltet. Das stilistische Spektrum reicht ganz zeitgemäß vom Klassizismus über den Historismus und (vereinzelt) Jugendstil bis zur Moderne. Im Vergleich zu den Gräbern auf gleichzeitigen christlichen Friedhöfen ist die Gestaltung tendenziell etwas zurückhaltender. Figürliche Elemen-te sind wegen der Bilderverbots im Judentum (das aber vor allem Bilder Gottes betrifft) seltener. Im Laufe der Zeit nimmt die Ornamentik zu. Besonders beliebt sind Symbole, die auf die Vergänglichkeit oder das ewige Leben verweisen, wie segnende Hände, Levitenkannen, Sanduhren, Schmetterlinge, sich in den Schwanz beißende Schlangen (Ouroboroi), Mohnblumen, gebrochene Bäume und Säulen oder geknickte Blumen. Erst nach 1910 werden häufig Davidsterne verwendet. Vereinzelt kommen auch Berufssymbole wie die Harfe eines Kantors oder die Schlangen eines Arztes vor. Erst in den 1930er Jahren beginnt die Verwendung von kleinen Kreuzen als Kür-zel für "gestorben". Im Vergleich zu anderen jüdischen Friedhöfen sind in Aachen figürliche Darstellungen wie Engel, Kinderdarstellungen oder Porträtreliefs verhältnismäßig häufig.
88 der Grabsteine aus der 2. Hälfte des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jhs. sind signiert und lassen sich überwiegend den in Aachen einschlägigen Bildhauern und Steinmetzen zuordnen, wie Wilhelm Pohl (1846-1908), Carl Esser (1861-1929), Josef Meurisse (1868-1936), Arnold Königs (1871-1960), Carl Burger (1875-1950) und Erich von den Driesch (1878-1915), von dem allein achtzehn Grabsteine stammen. Drei Grabsteine wurden von Moritz Levy jun. (1852-1940) aus Köln geschaffen, der in der Region zu den bekanntesten jüdischen Steinmetzen gehörte. Neun weitere Gräber sind ebenfalls nachweislich von auswärtigen Bildhauern angefertigt worden: Das Grab für Ernst Hirtz aus dem Jahre 1924 wurde von dem bekannten Frankfurter Bildhauer Benno Elkan (1877-1960) gestaltet. Sieben Grabgestaltungen aus der Zeit von 1930 bis 1937 stammen von Leopold Fleischhacker (1882-1946), einem sehr erfolgreichen Düsseldorfer Bildhauer, aus dessen Werkstatt zahlreiche Bauskulpturen und Porträts, vor allem aber eine große Zahl von jüdischen Grabsteinen (mindestens etwa 250) hervorgegangen sind. Schließlich wurde die Gruft der Familie Feodor Meyer, die mit Abstand aufwändigste Grabanlage des ganzen Friedhofs von 1902, mit einem großen figürlichen Relief nach einem Entwurf von Karl Gustav Rutz (1857-1949) aus Düsseldorf geschmückt. Während in Aachen selbst wohl nur christliche Bildhauer und Steinmetzen zur Verfügung standen, ist auffällig, dass unter den vier auswärtigen Bildhauern drei Juden sind (Elkan, Fleischhacker und Levy), bei einem entsprechenden Anspruch also offenbar doch bevorzugt Glaubensgenossen mit Aufträgen betreut wurden.
Bedeutung für Städte und Siedlungen:
Die Lage und die Ausdehnung des Jüdischen Friedhofs an der Lütticher Straße sind aufschlussreich für die Siedlungs-und Stadtbaugeschichte.
Im Mittelalter wurde üblicherweise in den Kirchen und um die Kirchen (Kirchhof) beigesetzt, auch innerhalb der Städte. Außerhalb wurden Friedhöfe meist nur anlässlich von Pestepidemien angelegt, oder aber um die schon immer vor der Stadt gelegenen Siechenhäuser. Erst im 16. Jh. entstanden in Deutschland die ersten allgemeinen außerstädtischen Friedhöfe. Im 18. Jh. begannen sich dann moderne Hygienevorstellungen durchzusetzen, und innerstädtische Friedhöfe wurden nach und nach geschlossen. In Aachen veranlasste die französische Verwaltung deshalb 1803 die Anlage des Ostfriedhofs vor der Stadt, der aber den Katholiken vorbehalten war. Den Juden hingegen wurden schon immer grundsätzlich außerhalb, abseits jeder Bebauung gelegene Begräbnisplätze zugewiesen.
Für diese vom christlichen Umfeld auferlegte räumliche Ausgrenzung ist auch der Jüdische Friedhof an der Lütti-cher Straße ein beredtes Beispiel.
Den Aachener Juden wurde nach ihrem Antrag auf Zuweisung eines Grundstücks 1820 zunächst eine Parzelle vor dem Adalbertstor angeboten, die sich aber wegen der Bodenverhältnisse als ungeeignet herausstellte. Danach wurden zwei weitere Grundstücke in Erwägung gezogen, von denen eines aber in sehr großer Entfernung lag. Es macht den Eindruck, dass die weitere Bearbeitung des Antrags von Seiten der Stadt bewusst verschleppt wurde. Erst im Juni 1822 wählte die Stadt nach Aufforderung durch die Regierung ein Grundstück an der Lütticher Straße aus. Es war etwa 400 m² groß, von dreieckiger Form und lag an einem beim Straßenbau entstandenen Geländesprung, war also vermutlich als Restfläche für landwirtschaftliche Zwecke ungeeignet. Der Friedhof muss von An-fang an von einer Mauer eingefriedet gewesen sein, die später entsprechend den zahlreichen Erweiterungen abschnittsweise immer wieder verlängert und versetzt wurde. Die erste Erweiterung von 1846 reichte bis zur heutigen Körnerstraße, mit der nächsten von 1865 entstand dann eine etwa viereckige Grundform. Nach weiteren Vergrößerungen 1878, vor 1889 und 1905 wurde schließlich 1927 die heutige Ausdehnung nach Südosten erreicht. Die letzte Erweiterung nach Nordosten von 1981 bildet einen Annex. Durch diese vielen und kleinteiligen Erweiterungen entstand die im Vergleich zu anderen Aachener Friedhöfen (wie Ostfriedhof und Westfriedhof, die ebenfalls erweitert wurden) auffällig unregelmäßige Grundform des Friedhofs.
Die Lütticher Straße war bei der Anlage des Friedhofs noch unbebaut, dieser lag daher etwa 350 m vor der Stadt. Nur allmählich näherte sich die Bebauung. Erst in den 1920er Jahren wurde der Friedhof von der umgebenden Bebauung gegenüber an der Lütticher Straße und entlang der Körnerstraße unmittelbar eingeschlossen. Rückwärtig innerhalb des großen Baublocks zwischen Lütticher Straße, Körnerstraße und Weberstraße entstanden in direkter Nachbarschaft zum Friedhof Werkstatt- und Industriegebäude, die ihrerseits zum Teil kurz nach 1980 durch eine Wohnbebauung (an der neu angelegten Emmi-Welter-Straße) ersetzt wurden. Ein städtebaulicher Bezug zwischen Friedhof und umgebender Bebauung ist nicht zu erkennen.
Ferner liegen für Erhalt und Nutzung vor:
Künstlerische Gründe:
Über die oben dargelegte, kunst- und kulturgeschichtliche Bedeutung der Grabstätten des Jüdischen Friedhofs als Gesamtheit hinaus haben viele der Grabsteine in unterschiedlichem Maße auch eine individuelle künstlerische Bedeutung. Hier seien nur in chronologischer Reihenfolge einzelne besonders bemerkenswerte Beispiele vorge-stellt; die Liste soll keinesfalls abschließenden Charakter haben. Von der Mehrzahl der hier vorzustellenden Grabsteine sind die Bildhauer oder Steinmetzen bekannt - offenbar wurden die künstlerisch anspruchsvollsten Gräber am häufigsten signiert.
Der älteste Grabstein des Friedhofs aus dem Jahre 1822 für Jacob Hartogs ist gleich ein künstlerisch überzeugendes Beispiel einer jüdischen Glaubensvorstellungen adaptierten klassizistischen Gestaltung. Der von einem unbekannten Künstler geschaffene Stein ist mit Postamenten, Kantenpilastern und einer Ädikula mit Segmentgiebel und Eckakroterien architektonisch behandelt. An die Pilaster ist ein Vorhang drapiert, und das Feld darunter nimmt die hebräische Inschrift auf. Außerdem findet man die Vergänglichkeitssymbole Levitenkanne, Sanduhr und verlö-schende Fackel. Der Grabstein wurde offenbar als so gelungen wahrgenommen, dass er 1825 leicht vereinfacht für Moses Levy wiederholt wurde.
Aus dem Jahre 1894 stammt das Grab der Hedwig Auerbach mit einem Sockel in Belgisch Granit, einer Stele und Inschrifttafel in Granit und einem vollplastischen, lebensgroßen Bronzeengel, der stark verdreht mit herabhängen-dem rechten Bein auf einer Pilasterbasis sitzt und den rechten Arm erhoben hat, um den Vornamen der Verstorbe-nen auf die Stele zu schreiben - ein künstlerisch originelles Konzept. Die Figur, deren Künstler unbekannt ist, steht in der akademischen Tradition des 19. Jhs. und überzeugt durch anatomisch korrekte Körperdarstellung, Detaillie-rung und den Faltenwurf des über die Arme drapierten Gewandes.
Das ebenfalls von einem unbekannten Künstler 1899 geschaffene Grab der Julie Meyer ist mit einem lebensgroßen, sitzenden Engel gestaltet, dessen Füße auf einem Kissen ruhen. Er beugt sich innig nach links, um ein stehendes Kind zu umarmen. Die Figuren halten Vergänglichkeitssymbole (Blüten und eine Mohnkapsel), während der Ouroboros mit Dreieck und Auge auf der Rückseite für die Aufklärung steht. Leider ist das sehr gefühlsbetonte künstlerische Konzept des Grabes derzeit durch Moosbewuchs beeinträchtigt.
Das figürliche Bronzerelief an der Gruftanlage der Familie Feodor Meyer wurde 1902 nach einem Entwurf des Düsseldorfer Bildhauers Karl Gustav Rutz gegossen. Dieses Grab ragt nicht nur durch seine Größe heraus, sondern auch durch die künstlerische Qualität. Aus einer im Relief dargestellten Gruppe von Trauernden löst sich vollplastisch ein überlebensgroßer Engel mit Palmzweig, der mit trauernd nach vorn geneigtem Kopf langsam nach vorn und auf den Betrachter zu die steinernen Treppenstufen zum Grab herabschreitet. Die vom Zwei- ins Dreidi-mensionale übergehende Behandlung der Figuren ist ein virtuoses Spiel mit dem Konzept des Figurenreliefs, wie es seit der Frührenaissance immer wieder die Künstler beschäftigt hat.
Unter den vom Aachener Bildhauer Erich von den Driesch stammenden Grabsteinen des Friedhofs haben mindes-tens zwei eine künstlerische Bedeutung. Beim Grab für Carl und Mathilda Heinemann von 1906 steht eine lebens-große Trauernde wirkungsvoll frontal vor einer hohen, durch Architekturelemente symmetrisch eingefassten, glat-ten Stele. Sie hält in der Rechten einen Blumenstrauß und legt die Linke auf die Brust. Das Konzept verbindet überzeugend Trauer und Monumentalität. Stärker vom Jugendstil beeinflusst, aber auch an attische Grabsteine angelehnt ist das Grab für Meta Reingenheim von 1913. Die Trauernde ist hier zur Seite gewandt und legt den Kopf in die Rechte. Ihre Wirkung bezieht sie aus den Blättern des Baums über ihr und aus der leeren linken Hälfte des Grabsteins, wo nur die kleine Inschrift zu lesen ist.
Sehr monumental und architektonisch gestaltet ist die Grabstätte von Joseph Meyer aus dem Jahre 1910. Einflüsse aus dem Jugendstil sind unverkennbar. Sehr streng frontal sitzt auf dem Grab eine Trauernde, deren leicht geneig-ter Kopf die einzige Abweichung von der Symmetrie ist. Der Aachener Bildhauer Carl Burger hat hier ein recht ungewöhnliches künstlerisches Konzept umgesetzt.
Wesentlich moderner und gleichzeitig wieder inniger ist der Grabstein von Marta Meyer aufgefasst, der 1912 von dem Aachener Josef Meurisse geschaffen wurde. Die lebensgroße, fast vollplastische Figur einer Trauernden ist stark asymmetrisch mit gesenktem Kopf nach links gewandt und steht vor fast leerem Grund (die Inschrift ist unten ganz klein angebracht). In der Figurenauffassung ist das Vorbild von Aristide Maillol unverkennbar, und im Vergleich mit dem thematisch und kompositionell ähnlichen Grab Reingenheim, das sogar ein Jahr jünger ist, zeigt sich die Modernität von Meurisse.
Benno Elkan aus Frankfurt ist wahrscheinlich der berühmteste für den Friedhof tätig gewesene Bildhauer. Sein Grab für Ernst Hirtz aus dem Jahre 1924 besteht aus einer rechteckigen, liegenden Bronzeplatte, bei der die mittige Inschrifttafel von einer architektonischen, in den Details expressionistisch gestalteten Rahmung mit figürlichen Reliefs umgeben ist. Die sehr athletischen, männlichen Nacktfiguren unten und die halbbekleidete ruhende Trau-ernde oben zeigen eine Figurenauffassung, die typisch für die 1920er Jahre ist, aber auch Elkans Studium der italienischen Renaissance erkennen lässt. Das sehr schlüssige Gesamtkonzept des Grabmals fällt durch die gewählte, für den Teilhaber einer der größten Aachener Tuchfabriken recht zurückhaltende Grabform auf dem Friedhof kaum auf.
Beim Grab des 1934 im Alter von sechzehn Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommenen Lutz Goldschmidt befindet sich auf dem Sockel die ausdrucksvolle Büste einer Mutter, die den Arm um ein kleines Kind legt. Der unbekannte Bildhauer hat hier starke Einflüsse expressionistischer Bildhauerkunst, vor allem von Käthe Kollwitz, verarbeitet.
Schließlich ist noch eine Gruppe von abstrakt modernen, fast durchweg querrechteckigen Grabsteinen mit meist asymmetrischen Kompositionen zu nennen, die den Vorstellungen des Konstruktivismus und des Bauhauses fol-gen. Dazu gehört der Grabstein der Familie Bernhard Struch von 1930 mit einer kompositorisch sehr überlegt an-geordneten Schrift und einer Konfiguration von kleinen Würfeln und Quadern in der linken oberen Ecke als einzi-gem Schmuck. In die Komposition einbezogen sind jedoch auch der asymmetrische Sockel und die Grabeinfas-sung. Auch der Grabstein von Louis Herz von 1929 ist trotz der symmetrischen Komposition sehr avantgardistisch und abstrakt und weist in der Gestaltung auf Grabsteine der 1960er Jahre voraus. Ähnlich, aber etwas einfacher und wieder asymmetrisch ist der Grabstein von Paul Hirtz aus dem Jahre 1930 mit jeweils zwei kubischen Stegen links oben und rechts unten. Mehrere der abstrakten Grabsteine stammen aus der Düsseldorfer Werkstatt von Leopold Fleischhacker, der über lange Zeit nur figürlich-expressive Werke geschaffen hat und erst in den 1930er Jahren zur Abstraktion übergegangen ist. Die meisten seiner Grabsteine sind kompositionell sehr einfach mit der Schrift als einzigem Schmuck, und der Fokus liegt auf dem wertigen und sorgfältig bearbeiteten Steinmaterial. Unter den sieben signierten Aachener Werken Fleischhackers ist jedoch das Grab von Emil und Marianne Rosen-berg aus dem Jahre 1936 hervorzuheben. Es hat eine kubische, symmetrische Gestaltung, bei der der Familienname am oberen Rand sehr betont ist.
Eine künstlerische Bedeutung hat sicher auch die derzeit nicht sichtbare, aber mindestens in Teilen noch vorhandene Ausmalung der Trauerhalle, die 1928 von dem jüdischen Maler Max Lazarus aus Trier (1892-1961) geschaffen wurde. Eine fundierte Einschätzung ihrer Bedeutung wird aber erst nach der Freilegung möglich sein. Neben Lazarus? freien Arbeiten, die seine Prägung zuerst durch Paul Cézanne, dann durch den Expressionismus erkennen lassen und eine ausgesprochen charakteristische Farbgebung haben, war er vor dem Krieg vor allem ein bedeutender, vielbeschäftigter Synagogenmaler. Sein monumentales ?uvre ist aufgrund der Zerstörung der Synagogen 1938 aber nur noch durch Schwarzweißfotografien und durch die Entwurfszeichnungen aus dem Nachlass bekannt. Die Aachener Ausmalung könnte sogar die einzige erhaltene von Lazarus sein. Für die Aachener Trauerhalle hat Lazarus drei unterschiedliche abstrakte Entwürfe angefertigt, denen eine kräftige Farbgebung in Rot, Orange, Gelb und Blau gemeinsam ist.
Volkskundliche Gründe:
Der Jüdische Friedhof an der Lütticher Straße ist nicht nur ein wichtiges Zeugnis für jüdische Bestattungskultur, sondern auch ganz konkret für bestimmte Bestattungsriten und -vorschriften sowie Frömmigkeitsvorstellungen.
Im Judentum herrscht die Vorstellung ewiger Totenruhe. Eine zeitlich begrenzte Liegezeit, wie sie auf christlichen Friedhöfen - wohl aus pragmatischen Gründen - im Laufe des 19. Jhs. eingeführt wurde, ist undenkbar, sodass Gräber und normalerweise auch Grabsteine nicht entfernt werden dürfen. Der nur begrenzt zur Verfügung stehen-de Platz hat im älteren Teil des Friedhofs, also vor allem vor 1865, dem Jahr der ersten größeren Erweiterung, daher zu einer dichten und unregelmäßig angeordneten Belegung geführt, wenn auch bei weitem nicht so dicht, wie man es von vielen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Friedhöfen kennt.
Grundsätzlich sollen die Gräber nach Jerusalem ausgerichtet sein. Dies wird im jüngeren Teil des Aachener Friedhofs ziemlich genau eingehalten, weniger im älteren, wo die dreieckige Grundform und der eng begrenzte Platz die Ausrichtung der Gräber vorgaben. Urnenbeisetzungen sind eigentlich nicht erwünscht, waren aber bei Überführungen manchmal unvermeidbar. Um die Totenruhe nicht zu stören, hat man den als zweiten verstorbenen Ehepartnern häufig einen separaten Grabstein gesetzt, Doppel- und Familiengräber sind also vor allem in der Anfangszeit seltener als auf christlichen Friedhöfen. Grabbepflanzungen sind unüblich, wiederum um die Totenruhe nicht zu stören, stattdessen werden von Besuchern kleine Steine auf die Gräber gelegt. Die Gestaltung der Grabsteine war bereits oben vorgestellt worden.
Zum Besuch des Friedhofs gehören das Vermeiden von lauten Gesprächen, das Tragen einer Kopfbedeckung (für Männer) und das Händewaschen beim Verlassen, daher gibt es am Eingang des Aachener Friedhofs ein Wasch-becken mit zweihenkliger Kanne. Hinter der Trauerhalle befindet sich ein Tahara-Raum für rituelle Leichenwaschungen.
Zum Anschauungswert des Aachener Friedhofs trägt schließlich auch bei, dass er - anders als die große Mehrzahl der jüdischen Friedhöfe in Mitteleuropa - nach wie vor aktiv benutzt wird, und die eben skizzierten Vorschriften weiter gelebt werden; auch nichtjüdische Besucher sollten sich daran halten und werden auf diese Weise für jüdische Vorstellungen aufgeschlossen.
Wissenschaftliche, insbesondere architekturhistorische Gründe:
Den Gebäuden auf dem Jüdischen Friedhof an der Lütticher Straße kommt eine architekturgeschichtliche Bedeutung zu.
Das ursprüngliche, von dem erfolgreichen Aachener Architekten Eduard Linse (1848-1902) 1880 erbaute Wärter-haus hatte einen Zeugniswert für die Architekturgeschichte des späten 19. Jhs., wie die Baupläne noch erkennen lassen. Von diesem Bau sind leider nur noch Reste erhalten. Trotz seiner relativ geringen Größe zeigte das Haus mit seinen Fensterformen, insbesondere aber dem zweieinhalbgeschossigen Eckturm mit Wendeltreppe, der von einem fast kugelförmigen Aufsatz bekrönt war, einen erheblichen gestalterischen Aufwand. Linse wählte für das Gebäude eine Mischung zwischen Anklängen an byzantinische und orientalisch-maurische Architektur, die höchst malerisch wirkt. Der Eckturm ermöglichte einen Blick über den Friedhof und diente damit praktischen Zwecken, erinnert aber auch stark an ein Minarett. Solche Orientalismen waren in dieser Zeit für jüdische Gemeindebauten, vor allem Synagogen, weit verbreitet und zeugen von einer gewissen Unsicherheit bei der Suche nach einer passenden Formensprache. Da Synagogen bis um 1800 in aller Regel nur klein und einfach sein durften, fehlte es an einer längeren Tradition für jüdische Repräsentationsbauten. Byzantinische und maurische Bauformen, wie sie von den fast immer nichtjüdischen Architekten ausgesucht wurden, müssen auf das Umfeld befremdend gewirkt haben und waren im Grunde auch inhaltlich deplatziert.
Die Trauerhalle von 1899 zeigt zwar in der Reihung gerahmter Rundbogenfenster ebenfalls leichte byzantinische Anklänge, ihre Formensprache löst sich aber dennoch wesentlich stärker von diesem Schema. Die Eckbildung orientiert sich eher am Barock. Das Gebäude ist durch die Fensterreihe sehr hell und kann als anspruchsvoller, leicht historisierender Zweckbau gelten. Als Ziegelbau ist es ferner auch ein Zeugnis für die Bautechnik seiner Entstehungszeit.
Die Bauteile aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, also der größte Teil des Wohnhauses und die Anbauten an die Trauerhalle (Tahara-Raum), sind architektonisch einfach.
Der Jüdische Friedhof an der Lütticher Straße ist kein Gartendenkmal im eigentlichen Sinne, da nie eine bewusste Gesamtgestaltung versucht wurde. Dies ist schon durch die Entstehungsgeschichte mit den vielen kleinen, je nach Bedarf und Möglichkeiten vorgenommenen Vergrößerungen des Friedhofs verhindert worden. Der heutige Baumbestand ist daher - abgesehen von der Lindenreihe am Hauptweg, die planmäßig gepflanzt ist - mehr oder weni-ger zufällig aus Einzelpflanzungen entstanden. Dennoch liefern die älteren Bäume in ihrer Gesamtheit einen wich-tigen Beitrag zum parkartigen Charakter des Friedhofs als Stimmungswert. |